Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte – HOLENSTEIN (DH)

HOLENSTEIN, André. Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte. Baden: Hier und Jetzt, 2014, 285p. Resenha de: FURRER, Markus. Didactica Historica – Revue Suisse pour l’Enseignement de l’Histoire, Neuchâtel, v.2, p.181-182, 2016.

Der Berner Historiker André Holenstein tritt mit seiner transnationalen Deutung der Schwei­zer Geschichte « Mitten in Europa » gegen Vor­stellung und Klischee an, die Schweiz sei eine politische und historische Insel. Er hat mit sei­nem Buch in einer Zeit, in der Identitätspolitik und die Frage nach den Ursprüngen an Viru­lenz zugelegt haben, breite öffentliche Resonanz gefunden.1 Eine Antwort auf diese Entwicklung gibt André Holenstein gleich zu Beginn: Die von Globalisierung und Liberalisierung besonders betroffene Schweiz, die sich auch der europäischen Integrationsdynamik nicht entziehen könne, wirke fundamental verunsichert. Als Kleinstaat erfahre die Schweiz die Auswirkungen solch dynamischer ökonomischer und politischer Prozesse besonders drastisch. Der Blick in die Geschichte, wie ihn André Holenstein vornimmt, zeigt zudem, dass die Schweiz als Staatswesen « mitten in Europa » den vielfältigen politischen, gesellschaftlichen und auch ökonomischen sowie kulturellen Pro­zessen des europäischen Umfeldes schon immer stark ausgesetzt war und diese zur Staatswerdung und Identität gar massgebend beigetragen haben. André Holenstein bringt dies auf die Formel von « Verflechtung und Abgrenzung », welche er als zwei Seiten derselben Medaille verstanden haben will – ein Spannungsverhältnis, das sich durch die Jahrhunderte zog und bis in die Gegenwart immer wieder zu frappanten Parallelen führt, sei es in der Aussenhandelspolitik, der Diplomatie generell und überhaupt in der schweizerischen Wahrneh­mung Europas und der Welt. Diese Bezüge und Sichtweisen sind im vorliegenden Band besonders prägnant herausgearbeitet. Transnationalität wird in der Folge als « condition d’être » der Schweiz erkannt und ausgelegt.

Das für ein breiteres Lesepublikum anschaulich und beispielhaft geschriebene Buch ist auch für den Umgang mit und den Einbezug von Schwei­zer Geschichte im Unterricht von grossem Nutzen. Einmal postuliert André Holenstein, was Geschichte zu leisten vermag, und legt überdies Strukturen offen, wie man sich den Prozess der Herausbildung des schweizerischen Staatswe­sens erklären kann. Zur Sprache kommt auch die gesellschaftliche Funktion von Geschichte. So bedient historisches Wissen Orientierungsbe­dürfnisse: es schärft den Sinn für die Kräfte der Verflechtungen und der Abgrenzung und kämpft gegen das Verhaftetsein in statischen Geschichts­bildern an. Historisches Wissen kann so helfen, die Zeitgebundenheit von Geschichtsbildern und Geschichtsauffassungen zu entziffern und den Sinn für die Wandelbarkeit politischer Konstel­lationen und Machtlagen zu schärfen (S. 261).

Das Buch geht chronologisch verschiedenen Ent­wicklungssträngen und Prozessen nach und räumt mit Klischeevorstellungen mehrfach auf. Ein spe­zielles Augenmerk erhalten die Prozesse der Iden­titätsbildung wie der Alteritätserfahrungen im 15. Jahrhundert. Verflechtungen sowie Abgrenzungen in der alten Schweiz werden profund ausgeleuch­tet. Als Beispiele für die Verflechtungen wer­den Migration (darunter militärische und zivile Arbeitsmigration) sowie kommerzielle wie auch die aussenpolitischen und diplomatischen Ver­flechtungen diskutiert. Beispiele für Abgrenzungen bilden insbesondere die Neutralität, die sich vom Gebot der Staatsräson zum Fundament nationa­ler Identität entwickelt hat, oder auch das Gefühl des Bedrohtseins des ‹ eidgenössischen Wesens ›. Zwei weitere Kapitel widmen sich den Prozessen der modernen Schweiz zwischen « Einbindung und Absonderung ». Mit einem Blick zurück erfahren wir vorerst, dass Schweizer Kaufleute bereits früh aus der günstigen Lage mitten in einem chronisch krie­gerischen Europa heraus einen florierenden Handel mit Kriegsmaterial und lebenswichtigen Gütern betrieben (S. 105) oder auch, wie stark der strate­gisch sensible Raum des Landes durch die geopo­litische Lage im « Auge des Hurrikans » bestimmt war. Die eidgenössischen Orte unterhielten bereits früh mit allen wichtigen antagonistischen Mächten langfristige Vereinbarungen und verschafften sich auf diese Weise Sicherheit (S. 123). Eine beson­dere Bedeutung hatte Frankreich für die Schweizer Geschichte. Dieser Macht vermochten die kleinen eidgenössischen Republiken wenig entgegenzuset­zen, und so wirkte die Eidgenossenschaft bald als ihr Allianzpartner und bald als ihr Protektorat, je nach europäischer geopolitischer Grosswetterlage. Dabei war die alte Eidgenossenschaft auch ein schwieriges Pflaster für die ausländische Diplomatie, die sich um diesen strategischen Raum bemühte, was wie­derum zeigt, dass der schweizerische Raum schon früh als eigenständiges Völkerrechtssubjekt betrach­tet worden ist.

Immer wieder ist von Ambivalenzen die Rede. Das tiefe Bedürfnis nach Abgrenzung von einem als wesensfremd und bedrohlich wahrgenomme­nen Ausland gehört ebenfalls zur Geschichte der schweizerischen Aussenbeziehungen. Nach André Holenstein ist dies darauf zurückzuführen, dass in der konfessionell, später auch sprachlich-kulturell sowie politisch uneinheitlichen Schweiz die tradi­tionellen Anknüpfungspunkte für die Begründung nationaler Zusammengehörigkeit fehlten und ihre kleinen Republiken auch über keine Bezugspunkte zu fürstlichen Dynastien verfügten.

André Holensteins breit angelegte Analyse zeigt mit ihrer stringenten und originellen Fragestel­lung von « Verflechtung und Abgrenzung », was Geschichte zum Verständnis und Verstehen einer Staatswerdung beitragen kann. Sie hilft uns, vom starken Mythenbezug der Schweizer Geschichte abzurücken und an dessen Stelle in Gesellschaft und Schule historische Analyse und Reflexion einzubringen. Dafür machte sich bereits Herbert Lüthy 1964 stark, als er schrieb:

« Es ist gefährlich, wenn Geschichtsbewusstsein und Geschichtswahrheit, und damit auch Staatsbewusstsein und Staatswirklichkeit, so weit ausei­nanderrücken, dass wir von uns selbst nur noch in Mythen sprechen können. »2

[Notas]

1 Z.B. die Rezension von Maissen Thomas, Verflechtung und Abgrenzung, in http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/verflechtung-und-abgrenzung-1.18432160 (20.07.2015).182 | Didactica Historica 2 / 2016

2 Lüthy Herbert, Gesammelte Werke, Bd. IV, Zürich 2005, S. 82‒102, S. 84, zit. in André Holenstein…, S. 15.

Markus Furrer – PH Luzern.

Acessar publicação original

[IF]

Schweizer Heldengeschichten – und was dahinter steckt – MAISSEN (DH)

MAISSEN, Thomas. Schweizer Heldengeschichten – und was dahinter steckt. Baden: Hier und Jetzt, 2015, 234 S. Resenha de: ZIEGLER, Béatrice. Didactica Historica – Revue Suisse pour l’Enseignement de l’Histoire, Neuchâtel, v.2, p.183-184, 2016.

Thomas Maissen ist in der Deutschschweiz im « Jubiläumssuperjahr » 2015 hervorgetreten durch seine Bereitschaft, wissenschaftlich basierte Geschichte gegen die geschichtspolitisch moti­vierten historischen Erzählungen von Christoph Blocher, der Leitfigur der schweizerischen SVP, zu stellen und die Diskussion um die Frage von Mythos und Geschichtswissenschaft zu führen. Dank seiner « Geschichte der Schweiz » (2010)

bestens bekannt und mit dem Renommee einer Professur an der Universität Heidelberg und der aktuellen Leitung des Deutschen Historischen Instituts Paris ausgestattet, bewegt er sich damit zwischen dem Geltungsanspruch von Experten und demokratischer Aushandlung von Geschichte. Dieser Problematik widmet er sich denn auch in der Einleitung seiner « Schweizer Heldengeschich­ten » und unterstreicht darin die Berechtigung von demokratischer Diskussion und Entscheidung über das kollektive Hoch- und In-Wert-Halten von Mythen. Wie bei jedem demokratischen Ent­scheid benötigt es, so Maissen, keiner Expertise, um eine Meinung zu haben und diese legitimer­weise in die öffentliche Diskussion einzuwerfen. Die Geschichtswissenschaft sei in derselben nur eine Stimme unter vielen. Allerdings billigt er ihr dann doch die Position der Expertenschaft zu, in der methodisch gesichert, analytisch fundiert und theoretisch basiert Geschichte erzählt werde und damit auch die Differenz zwischen Mythen und Geschichte mahnend benannt werden könne. Dort lägen auch ihre Rolle und ihre Verantwor­tung. Was Maissen damit deutlich macht, ist der Sachverhalt, dass Mythen eine andere Funktion erfüllen als Geschichte, aus deren Fundus sie sich, über jede Anbindung an Wissenschaftlichkeit hin­wegsetzend, immerhin (auch) bedienen.1 Und es ist wohl einfach der gesellschaftlichen Realität geschuldet, wenn er festhält, dass der Historiker nicht bestimmen könne, wie ein Mythos laute und welche Wirkung er entfalte. Die Chance, die Geschichtsbilder der schweizerischen Bevölkerung und Öffentlichkeit aufklärerisch zu beeinflussen, lägen demgegenüber darin, die Lücken aufzu­füllen zwischen den beiden geschichtskulturel­len Fixpunkten der schweizerischen Geschichte, der sogenannten Gründungszeit der Eidgenos­senschaft und der Zeit des Zweiten Weltkriegs, deren mythische Bedeutung er in der heldischen Bewährung gegen Bedrohungen und äussere Feinde sieht.

Diese Aufgabenzuweisung bestimmt denn auch das Buch: In 15 Kapiteln zitiert Maissen mythi­sche bzw. politische Aussagen zu schweizerischer Geschichte, diskutiert sie und entwickelt danach die entsprechende Geschichte so, wie sie ange­sichts des aktuellen Forschungsstandes und der vorhandenen und bekannten Quellen erzählt wer­den kann. Vom Rütlischwur bis zum Sonderfall erörtert er geduldig die jeweiligen Erkenntnisse der Wissenschaft und leistet damit aufklärerische Arbeit. Dass ihm dies auf überzeugende und gut lesbare Art gelingt, erstaunt niemanden, der seine früheren Publikationen gelesen hat.

Man möchte dann aber doch mit dem Geschichts­wissenschaftler Thomas Maissen streiten: weniger über seine wissenschaftlich fundierten Erzählun­gen und Aussagen als vielmehr über einiges, was er über die fachliche Expertenschaft und ihre Arbeit sagt. Vorerst schiebt er zwischen die Einleitung und die 15 Kapitel eine spannende Einführung in die Geschichte der Geschichtsschreibung zur Schweiz. Auch hier folgt man ihm interessiert und durchaus zustimmend. Weniger begeistert nimmt man aber den defätistischen Ton zur Kenntnis, in welchem er eine der grundsätzlichen Besonderhei­ten von Geschichte als Wissenschaft erwähnt – die fortwährende Erneuerung, Revidierung und Erwei­terung der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis –, die er dann aber neben die Aussage stellt, es sei in der politischen Auseinandersetzung legitim, auf veraltete Forschungsstände zurückzugreifen. Nun ist Erkenntnisfortschritt und damit die Revidie­rung von Wissen ein überaus wichtiges Kennzei­chen wissenschaftlicher Arbeit, und zwar auch im Falle der Geschichtswissenschaft. Zudem ist der politische antiaufklärerische Rückgriff auf revidier­tes und damit überholtes Wissen eine unredliche, das « Volk » täuschende Vorgehensweise im Inter­esse um « Macht und Wähleranteile », wie Maissen dies durchaus benennt, die schwerlich als legitim bezeichnet werden kann, wie er dies aber tut.

Auch die selbstbezichtigende Wendung befremdet, mit der Maissen die von ihm genannte Funktion von Geschichtswissenschaft in der Geschichtskul­tur beschreibt: So ist es zweifellos richtig, wenn er die Tätigkeit, in welcher die Geschichtswissen­schaft die « volkstümliche Deutung der Geschichte mit dem aktuellen Wissensstand unter Fachleu­ten vergleicht », als dekonstruierend bezeichnet.2 Warum er ihr aber das Attribut des Negativen hinzufügt (S. 11) und es bedauert, dass ein His­toriker nicht in gleicher Weise über gewonnene Erkenntnisse hinweggehen darf (S. 12), wie das Teile der Geschichtspolitiker tun, ist unverständ­lich. Und die Frage, wie eine mythische Erzäh­lung Räume für Entwicklung öffnen soll, wenn sie sich elementarer wissenschaftlich begründeter Kritik an einzelnen ihrer Elemente oder an der mangelnden Begründung ihrer Sinnstiftungen kategorisch verschliesst, müsste dann doch gestellt werden (S. 12).

[Notas]

1 Man tut gut daran, Roland Barthes’ Nachdenken über die Spezifität des Mythos nicht zu vergessen. Barthes Roland, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1964.184 | Didactica Historica 2 / 2016

2 Die Dekonstruktion als eine Textanalyse, die denselben auf Entstehungszusammenhänge, Interessen und Aussageabsichten, fachliche Richtigkeit und Plausibilität hin untersucht, ist in den letzten Jahren in der Geschichtsdidaktik als De-Konstruktion bedeutsam geworden, gerade weil der Umgang mit geschichtskul­turellen Geschichtsdeutungen neben der Fähigkeit zur Erstellung der eigenen Narration als zwingend erachtet wird, um selbst­bestimmt mit Geschichte in der Gesellschaft umzugehen. Vgl. Schreiber Waltraud, Körber Andreas, Borries Bodo von, Krammer Reinhold, Leutner-Ramme Sibylla, Mebus Sylvia, Schöner Alexander, Ziegler, Béatrice, Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, Neuried: ars una, 2006.

Béatrice Ziegler – PH FHNW, Aarau und Universtät Zürich.

Acessar publicação original

[IF]